Franz Fühmann

Der Traum von den PARANYAS

Notat-Abschrift (handschriftlich notierter Titel: Paranjas):

6.4.65

Wir, d.i. eine Reisegesellschaft aus Crossen (oder Croyssen) stehen plötzlich vor einem betonartigen, gemuldeten Abhang. Rechts ein seltsames Ding, schaut wie eine Betonschleife aus, die sich in ein reißendes Wasser im Betonbett verwandelt. Wir sind extra aus Cr. hierhergekommen (10 Minuten entfernt), um das zu sehn. Wir unterhalten uns dahingehend, daß sie in der Nacht noch weiter müssen, nach Cr. zurück, während ich es ja gut habe und gleich hier in der Nähe übernachten kann. Ich denke, daß man das öfter ausnützen und hierherfahren müsse. Plötzlich kommt ein aufgeregter Mann und schreit: Platz, Vorsicht, die PARANYAS kommen! Wir wissen nicht, wer das ist, aber die Aufregung packt uns und wir schauen zur Betonschleife. Plötzlich ist die ganze Betonschleife stürzendes Wasser, und vier bootartige Fahrzeuge, besonders das letzte einem wasserfahrenden Turm oder besser noch: einem Stampfer ähnliches Gebilde, alle mit je 4 Mann besetzt, rasen heran, kippen um, die Männer werden ins Wasser geschleudert. Die Fahrzeuge rasen vorüber, ein Fahrzeug prallt krachend zweimal zwischen den Schiffbrüchigen auf; wenn es sie getroffen hätte, hätte es sie zermalmt. Das Ganze ist grauenvoll, wie ein aztekisches oder assyrisches Menschenopfer. Ich schreie auf, aber einer der Einheimischen sagt drohend: Psst! Und leise: Das sind doch die PARANYAS! Mich schaudert. Ich begreife, daß das ein Sport ist, die höchste Tapferkeitsprobe. Aber die hätten doch tot sein können, flüstre ich. Der Begleiter eindringlich: Du hörst doch, es sind PARANYAS!

Die PARANYAS liegen im sausenden Wasser. Ich frage, ob man ihnen nicht helfen soll, auf die Beine zu kommen. Wütendes Zischen. Allmählich erheben sie sich auf die Knie, knien, kriechen, nach Mannschaften, zu einem undefinierbaren, einem großen, völlig durchsichtigen Lampion ähnlichen Gebilde. Sie schleppen sich bis dorthin, halten den Schädel vor die offene Seite des Lampions und schrauben ihre Gesichter ab, dann versuchen sie, aus dem hohlen Schädel Rauch in den Lampion zu blasen, dabei wanken und zittern sie. Es ist schauerlich und faszinierend. Ich stehe nun bei einem, der sein Rauchopfer geleistet hat und zusammengebrochen ist, und schiebe ihn durch einen Zaun, durch den er offensichtlich noch kriechen muß. Da ich das getan habe, ist mir klar, daß ich einen entsetzlichen Fehler gemacht, ja ein Verbrechen begangen habe. Ich versuche unauffällig, zu meinem alten Platz zurückzukehren, bilde mir dann auch ein, daß mich niemand gesehen habe. Da die erschöpften, ermatteten, todnahen PARANYAS sich durch den Zaun quälen, provoziere ich und frage einen Einheimischen: Darf man ihnen helfen? Keine Antwort, dann ein Kopfschütteln.

Ich sehe meinen Anzug an und denke: Ich bin die dreckige Halde hochgeklettert, der Anzug ist schmutzig geworden, aber es war doch sehr interessant!

Plötzlich sind die PARANYAS fort. Der Einheimische, der mich die ganze Zeit „betreut“ hat, kommt auf mich zu und sagt: Jetzt geht's erst eigentlich los! Ihr könnt euch verstecken, das Gelände ist ja sehr zerklüftet, es ist eine faire Chance! - Ich verstehe sofort und sage: Man wird uns dennoch finden und töten? - Er lächelt und sagt leise: Aber natürlich, was dachten Sie denn? - Dann: Aber verstecken Sie sich nur, das beruhigt!

Plötzlich sind wir in einer riesigen Halle, galerieumgeben. Eine westdeutsche Antikriegskundgebung. Ein junger, fröhlicher Mann, der sich als Rektor bezeichnet, steht auf einem Podest rechts im Saal und stellt unentwegt und mit einer unwahrscheinlichen Personenkenntnis ankommende Präsidiumsmitglieder und Delegierte vor. Ich sitze unter einer Empore und kaue Sonnenblumenkerne. Die Versammlung beginnt, es reden welche, aber wir hören und verstehen sehr schlecht. Nebenan rechts ein zweiter Saal, unsichtbar, offenbar sehr besetzt, von dort laufend Unruhe, die uns nichts verstehen läßt. Plötzlich gebietet der „Rektor“ Ruhe und stellt wieder Neuangekommene vor und sagt: Unter uns ist auch F.F., der ist auch würdig, im Präsidium zu sitzen, das ist ein alter Nazi , ein ganz bedeutender Nazi gewesen! - Ich grinse verlegen und spucke Sonnenblumenkerne. Heute ist der ja eine Geistesgröße, sagt der Rektor.

Plötzlich bricht die Wand zum unsichtbaren Nebensaal durch und eine wütende Menge stürmt herein und flucht und schimpft: Skandal! Wir hören nichts! Die Schlußparolen der Rede wiederholen! - Von oben kommt ein junger dicker Mann, einem Operateur oder Bierbrauer ähnlich, in einem glänzenden Lederwams und mit breitgespannten Knickerbockern, er stellt sich in Positur, wirft einen Arm vor, schlägt sich vor die Brust und ruft: Wir sind Kreuz-Zügler! - Tosender Beifall. Er ruft noch einmal: Wir sind Kreuz-Zügler!


Franz Fühmann: Unter den PARANYAS. Traumerzählungen und -Notate. © VEB Hinstorff Verlag Rostock 1988. S. 123-125


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